The Storyteller

Familiengeschichten hin oder her - Santo war hier und das war wichtig. Wichtig für sie beide. Ihm war bewusst, dass die Probleme der Vergangenheit noch immer nachhingen. Doch anders als Marco, suchte Santo nicht mehr nach der Schuld bei ihnen beiden, sondern war schon eher zu dem Schluss gekommen, dass der Schuldige wohl außerhalb zu suchen war. Er nagelte sich nicht mehr auf irgendwas fest, was ein Bündnis würde trüben können. Aus der Welt war das Problem nicht geschafft. Sie hatten Männer, Geld und Raum verloren. Doch das waren Dinge, die zu verkraften waren - auch für den Jüngeren, dessen Standbein nun einmal in Europa lag und gerne mal darüber hinwegtrübte, welche Ressourcen er eigentlich besaß.
Und jene Ressourcen setzte Santo auch schon seit geraumer Zeit hier in Übersee ein. Er hatte Kontakte von denen niemand etwas wusste. Underdogs, die nicht so in der Szene zu sein schienen, wie man glaubte. Und Santo, der kannte diese Underdogs gut. Als eher kleiner Clan in den USA musste er das auch. Und das war ein Vorteil, den er zu nutzen wusste und der auch Marco helfen würde. Zumindest hoffte es der Mailänder, dass es ihnen in diesem Fall etwas brachte. Leute, die man nicht mit den DiChellos in Verbindung brachte, weil sie andere Quellen anzapften, als jetzt die Sforza.

Santo ließ sich wieder in den Stuhl gleiten, nachdem er die Nummer gereicht hatte. Er vertraute Marco und wusste, dass diese Nummer nicht die Runde machen würde. Ihm entging jedoch nicht der argwöhnische Blick in seine Richtung. Es wunderte ihn nicht, denn sicherlich fühlte er sich ihm ausgeliefert und wie schon einmal die Stichelei gezeigt hatte, wusste auch der Mailänder dies. Dennoch sog er hörbar die Luft ein und entließ sie genauso geräuschvoll wieder aus seinen Lungen. Sein Blick war dabei tadelnd geworden.
"Du verstehst es immer noch nicht, Marco, oder?", entwich es dem Dunkelhaarigen und der fixierende Blick der grünen Augen lag wieder auf dem Versehrten.
Er strich sein Hemd ein wenig glatt, zog die Stille künstlich etwas in die Länge, ehe seine tiefe Stimme den Raum wieder füllte.
"Das hat nichts mit Nächstenliebe zu tun. Wir beide ergänzen uns in dem, was wir tun und womit wir handeln. Aber im Grunde grasen wir die gleichen Wiesen ab. Ich wäre ein Narr, wenn ich mit dir Krieg führe. Ich profitiere davon mehr, als du ahnst. Selbst wenn die Belucas niemals rauskriegen, dass ich dir helfe."
Bedächtig faltete er die Hände wieder in seinem Schoß zusammen und legte den Kopf leicht schräg, während sein Blick noch immer auf Marco ruhte.
"Außerdem bin ich ein sentimentaler Mensch. Mir bedeutet die Freundschaft zwischen uns immer noch mehr, als nur reine Geschäfte. Ich ziehe schlichtweg den Vorteil aus beiden Ebenen für mich heraus. Natürlich misstraust du mir. Aber würdest du das so richtig tun, säße ich nicht hier. Vermutlich wäre ich nicht einmal an die Macht gekommen, die ich jetzt habe."

Santo zeigte deutlich, dass er wusste, wie der Hase lief. Man biss nicht in die Hand, die einen fütterte. Dennoch sah er sich hier nicht als unterwürfig oder niedriger im Stand an. Nicht mehr. Seit drei Jahren saß er an der Spitze und sein Vater hatte nicht mehr viel zu sagen. Dem missfiel es ja eh, dass sein Spross die Geschäfte verlagerte und sogar plante, den Sitz in Europa einem Hintermann zu übergeben, um sich mehr auf die USA zu versteifen. Für Santo war das sein Abenteuer, jedoch mit einer gut gesicherten Rückfahrkarte, falls das nach hinten losging.
Der Hüne neigte sich dann doch wieder etwas vor und sein Blick war plötzlich stechend geworden, herausfordernd und gefährlich.
"Aber der Zug ist abgefahren, Marco. Und das weißt du auch. Ich bin weder dein Günstling noch dein Feind. Aber unterschätze nicht, dass ich mich nicht mehr wehre, wenn du mich nun in die Schranken weisen willst."
Er wies dann mit einer ausladenden Geste in den Raum und bedeute einfach mal das Sein als Ganzes an.
"Diese Freiheit die wir haben, haben wir uns gegenseitig zu verschreiben. Und ich vergesse genauso wenig wie du. Die anderen Kartelle würden sie nicht so schnell wieder an uns heranwagen, sollte auch nur das Gerücht aufkommen, dass wir ein Bündnis haben. Außerdem... Sieh es einfach als freundschaftlichen Gefallen an, dass ich dir helfe und mich wie ein Terrier in diese Sache verbeiße. Mach dir bewusst, dass dir das hier viel lieber ist, als sich mit mir um Geschäfte und Territorien zu streiten. Zudem konnte ich dich schon immer gut leiden. Ein ungewollter Bonus."
Seine Miene beruhigte sich bei den letzten Worten wieder etwas und hellte auf. Schließlich saß er freundlich schmunzelnd auf dem Stuhl, als könne er kein Wässerchen trüben. Ein charmantes Arschloch war er schon immer gewesen. Vorteil für Marco war: er war auch in gewisser Weise dessen charmantes Arschloch und biss lieber Feind als Freund.