03.11.2024, 04:07 - Wörter:
Herbstliches Calpheon – Land
Graue Wolken zogen über den Himmel. Regenschwer hingen sie über dem Land wie ein dichtes Leichentuch, das keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch ließ.
Genauso trist wie das Gemüt der hageren Person, die, in einen dunklen Umhang gekleidet, am Ufer des Flusses entlang auf einem Pferd ritt, schwarz wie die Nacht.
Bei näherer Betrachtung fiel auf, dass sich unter der Kapuze ein Mann verbarg, obwohl die langen, auffallenden türkisen Haare auch zu einer Frau hätten gehören können. Die blasse blaue Haut und der schlanke Körperbau deuteten darauf hin, dass die Person grazil und athletisch war.
Vor seinem geistigen Auge stiegen immer wieder die Bilder seiner Frau und seiner Kinder auf – er versuchte, es zu verdrängen, aber er konnte der Gedanken nicht Herr werden. Sein Leben hatte keinen Sinn mehr, er hatte versagt.
Ein Tropfen landete auf seiner Hand, die unter dem Mantel hervor lugte. Ein weiterer folgte und danach viele mehr. Doch noch setzte kein Platzregen ein – es war nur der Vorbote für ein lange, düstere Zeit ohne Licht.
Licht, das für seinesgleichen ohnedies unangenehm war.
Nein, er war kein Vampir, aber dennoch ein Wesen der Schatten. Warum, das hatte er nie genau verstanden, bis zu jenem Tag, als ihm eine merkwürdige Figur in seinen Träumen erschienen war. An diesem Tag hatte sich sein gesamtes bisheriges Leben verändert, aber auch hatte alles mit einem Mal einen Sinn ergeben.
Die Tatsache, dass er als Waisenkind gefunden worden war, seine sonderliche Erscheinung, die der Grund dafür war, wieso er nie wirklich Anschluss in der Stadt gefunden hatte.
Der Schotter knirschte unter den Hufen des Pferdes. Der Mann klopfte das Pferd sanft am Hals, als es schnaubte.
Der Hauptmann der Stadtwache hatte sich seiner angenommen, damals, als er niemanden gehabt hatte – doch das war lange her. Vierzig Jahre, um genau zu sein. Das war die einzige noble Tat, die Devlon erlebt hatte.
Später hatte er sich gegen seinen Bruder durchsetzen müssen, und dass es sein Bruder war, wusste er mit Sicherheit, denn er besaß dieselbe blaue Haut, wenngleich auch seine Haare feuerrot waren.
Niemand konnte sich die merkwürdige Haarfarbe erklären, aber irgendwann hatte das Dorf die beiden Kinder so akzeptiert, wie sie waren. Jeder ahnte, dass sie nichtmenschliches Blut in ihren Adern trugen, aber Devlon hätte nie geahnt, was er wirklich war.
Bis zu jenem Tage, an seinem zwanzigsten Geburtstag, als er der Gestalt aus seinen Träumen begegnet war.
»Töte sie«, hatte die Gestalt gesagt. »Töte die Menschen, die dich und deine Art unterdrücken. Sie werden dich nähren, mit ihren Ängsten, mit ihrer Seele, mit ihrem Leben. Sie haben den Untergang verdient.«
Das waren die Worte der Gestalt gewesen, die Devlon noch nie ohne den Helm gesehen hatte, der ihr Gesicht verborgen hatte. Aber er wusste, dass ihn etwas mit dieser Person verband – obschon sie unterschiedlicher nicht hätten sein können.
Heute, zwanzig Jahre später, wusste er, dass es sein Vater gewesen war.
In der Ferne ertönte Donner. Ein Blitz zuckte über den Himmel, dort, wo das Meer lag; offenbar ein weiterer Sturm, der sich ankündigte, doch Devlon wusste, dass er sehr wahrscheinlich vorbeiziehen und das Land nie erreichen würde. Bis zur Küstenstadt Port Epheria waren es nur wenige Kilometer, und da der Weg eben war, konnte man an manchen Tagen sogar von hier aus das Meer sehen.
Doch das war nicht sein Ziel.
Devlon lenkte das Pferd auf die Brücke, die links von ihm lag. Er stieg ab und landete leichtfüßig auf dem Holzboden. Abermals strich er dem Pferd über die Flanke und es antwortete mit einem entspannten Schnauben.
»Dich werde ich am meisten vermissen, mein Schwarzer«, sagte er und vergrub das Gesicht in der Mähne des Hengstes, der ein wenig unruhig wurde.
Dann griff Devlon nach dem Zaumzeug des Tieres und entfernte es. »Du bist frei«, sagte er. »Lauf, wohin dich deine Beine tragen.«
Das Pferd schien nicht zu begreifen. Es schnaubte erneut und trat unsicher von einem Bein auf das andere.
Doch bald würde es verstehen.
Devlon trat ans Brückengeländer und betrachtete die Wasseroberfläche. An dieser Stelle war der Fluss besonders tief, wusste Devlon. Er war auch breit, weshalb er auch für Schiffe zur Fahrt ins Landesinnere genutzt wurde. Von hier aus war Calpheon, die Hauptstadt des gleichnamigen Königreiches, gut erreichbar, und weiter östlich lagen Heidel und Altinova. Es war also die beste und schnellste Strecke für den Handel, denn der Weg über das Land war beschwerlich, da zwischen Calpheon und Heidel eine Bergkette lag.
Bei dem Wetter fuhren jedoch nur wenige Schiffe. Devlon hatte sich diesen Zeitpunkt absichtlich ausgesucht, um hier her zu kommen.
Er senkte den Blick und tastete nach dem Brückengeländer. Da war es noch, das Schloss, das er und seine Frau befestigt hatten, als sie sich kennengelernt hatten. Sie war eine Feuerfee gewesen, jung und schön in ihren besten Jahren.
Durch sein Unwissen war sie zu einem Monster geworden.
Doch er hatte seine Tochter trotzdem geliebt, auch wenn sie genau wie er kein gewöhnlicher Mensch war.
Er schloss die Augen und genoss für einen Moment den Wind, nahm die Kapuze ab, damit er ihn auch in den Haaren spüren konnte. Hier draußen gab es niemanden, vor dem er sich hätte verstecken müssen.
Und dann sprang er. Mit einem Satz hüpfte er über das Geländer und spürte im nächsten Moment auch schon das kalte Wasser seine Glieder umfangen.
Kühles Nass füllte seine Lungen, als er einen tiefen Atemzug nahm.
Er wusste nicht, ob es funktionierte, das war das Schlimme daran.
In der Vergangenheit hatte er einige Versuche unternommen, aber sie waren alle gescheitert. Dieses Mal war er wirklich entschlossen, seinem Dasein ein Ende zu bereiten, damit niemand mehr zu Schaden kam, wie seine Frau und seine Kinder.
Sein Sohn war noch irgendwo da draußen, vermutete er, denn er hatte sich bereits früh von seinen Eltern abgewandt – ein guter und richtiger Instinkt.
Sein Körper sank auf den Grund, schwer gefüllt vom Wasser und dem Sand, den er in den Taschen mit sich getragen hatte.
Den Blick nach oben gerichtet, betrachtete er die glitzernde Wasseroberfläche von unten und erkannte einen Sonnenstrahl, der sich den Weg durch die dichte Wolkendecke gebahnt hatte.
Dann schloss er die Augen und verlor sich in der Kälte, hieß sie willkommen.
Mit seinem Tod würden auch sie frei sein, die Seelen, die er genommen hatte, und das war ein Gedanke, der ihm Frieden schenkte.
Graue Wolken zogen über den Himmel. Regenschwer hingen sie über dem Land wie ein dichtes Leichentuch, das keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch ließ.
Genauso trist wie das Gemüt der hageren Person, die, in einen dunklen Umhang gekleidet, am Ufer des Flusses entlang auf einem Pferd ritt, schwarz wie die Nacht.
Bei näherer Betrachtung fiel auf, dass sich unter der Kapuze ein Mann verbarg, obwohl die langen, auffallenden türkisen Haare auch zu einer Frau hätten gehören können. Die blasse blaue Haut und der schlanke Körperbau deuteten darauf hin, dass die Person grazil und athletisch war.
Vor seinem geistigen Auge stiegen immer wieder die Bilder seiner Frau und seiner Kinder auf – er versuchte, es zu verdrängen, aber er konnte der Gedanken nicht Herr werden. Sein Leben hatte keinen Sinn mehr, er hatte versagt.
Ein Tropfen landete auf seiner Hand, die unter dem Mantel hervor lugte. Ein weiterer folgte und danach viele mehr. Doch noch setzte kein Platzregen ein – es war nur der Vorbote für ein lange, düstere Zeit ohne Licht.
Licht, das für seinesgleichen ohnedies unangenehm war.
Nein, er war kein Vampir, aber dennoch ein Wesen der Schatten. Warum, das hatte er nie genau verstanden, bis zu jenem Tag, als ihm eine merkwürdige Figur in seinen Träumen erschienen war. An diesem Tag hatte sich sein gesamtes bisheriges Leben verändert, aber auch hatte alles mit einem Mal einen Sinn ergeben.
Die Tatsache, dass er als Waisenkind gefunden worden war, seine sonderliche Erscheinung, die der Grund dafür war, wieso er nie wirklich Anschluss in der Stadt gefunden hatte.
Der Schotter knirschte unter den Hufen des Pferdes. Der Mann klopfte das Pferd sanft am Hals, als es schnaubte.
Der Hauptmann der Stadtwache hatte sich seiner angenommen, damals, als er niemanden gehabt hatte – doch das war lange her. Vierzig Jahre, um genau zu sein. Das war die einzige noble Tat, die Devlon erlebt hatte.
Später hatte er sich gegen seinen Bruder durchsetzen müssen, und dass es sein Bruder war, wusste er mit Sicherheit, denn er besaß dieselbe blaue Haut, wenngleich auch seine Haare feuerrot waren.
Niemand konnte sich die merkwürdige Haarfarbe erklären, aber irgendwann hatte das Dorf die beiden Kinder so akzeptiert, wie sie waren. Jeder ahnte, dass sie nichtmenschliches Blut in ihren Adern trugen, aber Devlon hätte nie geahnt, was er wirklich war.
Bis zu jenem Tage, an seinem zwanzigsten Geburtstag, als er der Gestalt aus seinen Träumen begegnet war.
»Töte sie«, hatte die Gestalt gesagt. »Töte die Menschen, die dich und deine Art unterdrücken. Sie werden dich nähren, mit ihren Ängsten, mit ihrer Seele, mit ihrem Leben. Sie haben den Untergang verdient.«
Das waren die Worte der Gestalt gewesen, die Devlon noch nie ohne den Helm gesehen hatte, der ihr Gesicht verborgen hatte. Aber er wusste, dass ihn etwas mit dieser Person verband – obschon sie unterschiedlicher nicht hätten sein können.
Heute, zwanzig Jahre später, wusste er, dass es sein Vater gewesen war.
In der Ferne ertönte Donner. Ein Blitz zuckte über den Himmel, dort, wo das Meer lag; offenbar ein weiterer Sturm, der sich ankündigte, doch Devlon wusste, dass er sehr wahrscheinlich vorbeiziehen und das Land nie erreichen würde. Bis zur Küstenstadt Port Epheria waren es nur wenige Kilometer, und da der Weg eben war, konnte man an manchen Tagen sogar von hier aus das Meer sehen.
Doch das war nicht sein Ziel.
Devlon lenkte das Pferd auf die Brücke, die links von ihm lag. Er stieg ab und landete leichtfüßig auf dem Holzboden. Abermals strich er dem Pferd über die Flanke und es antwortete mit einem entspannten Schnauben.
»Dich werde ich am meisten vermissen, mein Schwarzer«, sagte er und vergrub das Gesicht in der Mähne des Hengstes, der ein wenig unruhig wurde.
Dann griff Devlon nach dem Zaumzeug des Tieres und entfernte es. »Du bist frei«, sagte er. »Lauf, wohin dich deine Beine tragen.«
Das Pferd schien nicht zu begreifen. Es schnaubte erneut und trat unsicher von einem Bein auf das andere.
Doch bald würde es verstehen.
Devlon trat ans Brückengeländer und betrachtete die Wasseroberfläche. An dieser Stelle war der Fluss besonders tief, wusste Devlon. Er war auch breit, weshalb er auch für Schiffe zur Fahrt ins Landesinnere genutzt wurde. Von hier aus war Calpheon, die Hauptstadt des gleichnamigen Königreiches, gut erreichbar, und weiter östlich lagen Heidel und Altinova. Es war also die beste und schnellste Strecke für den Handel, denn der Weg über das Land war beschwerlich, da zwischen Calpheon und Heidel eine Bergkette lag.
Bei dem Wetter fuhren jedoch nur wenige Schiffe. Devlon hatte sich diesen Zeitpunkt absichtlich ausgesucht, um hier her zu kommen.
Er senkte den Blick und tastete nach dem Brückengeländer. Da war es noch, das Schloss, das er und seine Frau befestigt hatten, als sie sich kennengelernt hatten. Sie war eine Feuerfee gewesen, jung und schön in ihren besten Jahren.
Durch sein Unwissen war sie zu einem Monster geworden.
Doch er hatte seine Tochter trotzdem geliebt, auch wenn sie genau wie er kein gewöhnlicher Mensch war.
Er schloss die Augen und genoss für einen Moment den Wind, nahm die Kapuze ab, damit er ihn auch in den Haaren spüren konnte. Hier draußen gab es niemanden, vor dem er sich hätte verstecken müssen.
Und dann sprang er. Mit einem Satz hüpfte er über das Geländer und spürte im nächsten Moment auch schon das kalte Wasser seine Glieder umfangen.
Kühles Nass füllte seine Lungen, als er einen tiefen Atemzug nahm.
Er wusste nicht, ob es funktionierte, das war das Schlimme daran.
In der Vergangenheit hatte er einige Versuche unternommen, aber sie waren alle gescheitert. Dieses Mal war er wirklich entschlossen, seinem Dasein ein Ende zu bereiten, damit niemand mehr zu Schaden kam, wie seine Frau und seine Kinder.
Sein Sohn war noch irgendwo da draußen, vermutete er, denn er hatte sich bereits früh von seinen Eltern abgewandt – ein guter und richtiger Instinkt.
Sein Körper sank auf den Grund, schwer gefüllt vom Wasser und dem Sand, den er in den Taschen mit sich getragen hatte.
Den Blick nach oben gerichtet, betrachtete er die glitzernde Wasseroberfläche von unten und erkannte einen Sonnenstrahl, der sich den Weg durch die dichte Wolkendecke gebahnt hatte.
Dann schloss er die Augen und verlor sich in der Kälte, hieß sie willkommen.
Mit seinem Tod würden auch sie frei sein, die Seelen, die er genommen hatte, und das war ein Gedanke, der ihm Frieden schenkte.