The Storyteller

Die Treppenstufen zum dritten Stock knarrten leise unter Ayames Schritten. Je höher sie stieg, desto mehr veränderte sich die Atmosphäre: Die Flure, die zuvor noch blank poliert und hell gewesen waren, wirkten hier oben plötzlich staubiger, kälter, als hätte man diesen Teil der Universität schlicht vergessen. Das Licht war gedämpft. Nur von draußen fiel ein schmaler Streifen grauen Tageslichts durch ein schmales Fenster und warf blasse Muster auf den Boden. In den Ecken sammelte sich der Staub wie Spinnweben und die Farbe an den Wänden blätterte in kleinen Fetzen ab. Sie wusste nicht, ob es die kühle Luft oder ihre eigenen Gedanken waren, eigentlich hatte sie nicht herkommen wollen. Aber als ihre Freundinnen sie nach dem Mittagessen eine übertriebene Geschichten erzählt hatten und jetzt ihren Mut prüfen wollten, hatte sie, halb spöttisch, halb trotzig, versprochen, es ihnen zu beweisen. Die Story war ohnehin nur ein Abklatsch dieser Bloody-Mary-Geschichte. Vor der Tür zur verlassenen Mädchentoilette blieb sie stehen. Ihr Herz pochte schneller, ihr Atem bildete kleine Wirbel in der kühlen, etwas staubigen Luft. Ein letzter Moment des Zögerns, dann stieß sie die Tür auf. Drinnen roch es abgestanden, dem Raum fehlte es eindeutig an Sauerstoff. Die Kabinentüren standen schief, einige Spiegel an der Wand waren zersprungen, ihre Risse zogen wie dünne Narben durch das Glas. Jeder ihrer Schritte hallte leise durch den stillen Raum. Ayame trat langsam bis vor den mittleren Spiegel. Ihr eigenes Spiegelbild sah sie an: dieselben langen, dunklen Haare, dieselben warmen, bernsteinfarbenen Augen. Ein wenig blasser um die Nase als sonst, vielleicht auch etwas angespannter. Sie zwang sich zu atmen, tief und ruhig. Ein schiefes Lächeln lag ihr auf den Lippen. Nur für sich selbst. Nur, um sich Zuversicht zu zusprechen. Sie wusste ja eigentlich, dass das bloß Quatsch war und das es hier nichts gab. „Naoko“, sagte sie leise. Nichts. Sie hob das Kinn, versuchte, die Nervosität abzuschütteln, die ihr in den Fingerspitzen langsam zu kribbeln begann. Noch einmal: „Naoko.“ Wieder nur Stille. Aber diesmal, sicher nur Einbildung, spürte sie, wie die Luft um sie herum dichter wurde. Ayame ballte die Hände zu lockeren Fäusten. Sie hatte sich darauf eingelassen. Jetzt würde sie es auch durchziehen. Nur noch ein letztes Mal: „Naoko.“ Das Wort hing einen Moment lang in der kalten Luft und verglühte im Nachhall. Ayame wartete. Eine Sekunde. Zwei. Nichts. Erleichtert lächelte sie ihrem Spiegelbild entgegen, ein schiefes, fast triumphierendes Grinsen auf den Lippen. Sie hatte es doch gewusst. Nichts. Einfach gar nichts. Wie immer bei solchen dummen Mutproben. Bald würde sie unten bei ihren Freundinnen stehen, ihnen breit erzählen, wie sie sich in diesem düsteren Stockwerk völlig umsonst verrückt gemacht hatten. Und ganz nebenbei würde sie sich als Belohnung einen O-Saft ergaunern, mindestens. Für die Frechheit, dass sie ihr überhaupt diesen Unsinn eingeredet hatten. Mit einer betont lässigen Bewegung strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, drehte sich halb um und setzte zum Gehen an. Ihre Schritte klangen leicht auf den kalten Fliesen, jede Anspannung längst von ihr abgefallen. Sie war schon fast an der Tür.